Mittwoch, 28. November 2012

Mittwochs-Rezi: Rubinrot von Kerstin Gier

4 von 5 Eselsohren

Außen eine Mischung aus Scherenschnitt, Fantasy, Historienkulisse und Zucker-Pastelltönen. Der Titel ein gedoppeltes Adjektiv. Eine All-Age-Trilogie.

Eigentlich gute Gründe, schreiend davonzulaufen - aber seit ich das Buch bei einer Freundin im Regal fand (deren Buchgeschmack ich vertraue) schielte ich mit gewisser Faszination auf Kerstin Giers Bücher - als sie dann in der Lieblingsbücherchallenge auftauchten, war die Entscheidung gefallen: Leihen und Lesen.

Ich bekam eine originell gemischte Story aus den Teilen, die im Cover und im Klappentext anklingen - doch so gefällig geschrieben und (bisher) so schön konstruiert, dass es eine Freude war, Rubinrot zu lesen.




Stil
Der erste Eindruck schrie mir "Klischeekiste!" und "Stereotypenkabinettstück!" entgegen. Doch finde ich, dass die meisten Zusammenfassungen in Besprechungen der Geschichte nicht gerecht werden (oder bei mir die falschen Assoziationen auslösen). Kerstin Gier hat einen wirklich originellen und mitreißenden Plot gestrickt.

Es ist ein wenig Dan Brown für Kinder - aufgemotzt mit ein bisschen Steampunk und UK-Schulromantik zu gleichen Teilen -  und ein wenig "Die Frau des Zeitreisenden" jedoch ohne die unausweichliche Tragik. Die Personaldecke ist relativ dicht, dank viele mythischer Schüttelreime und guter Übersichtsskizzen aber schnell verinnerlicht - und seit Harry Potter mit ganzen Schulklassen voller Helden, Generationen von Zaubererbünden und Enzyklopädien mit Zauberlebewesen schockt uns ja doch nichts mehr.

Erzählweise
Identifikationsfigur ist die 16jährige Gwendolyn - endlich mal ein selbstbewusster Charakter im All-Age-Universum. Sie ist Britin mit Stammbaum und lebt zusammen mit ihrer Familie in drei Generationen samt Buttler in einem Herrenhaus in London, Mayfair. Eigentlich ist sie nur ein Nebencharakter einer Familiensaga rund um eine besondere Gabe: je ein Familienmitglied pro Generation springt durch die Zeit. Gwendolyns Familie repräsentiert die weibliche Blutlinie, eine weitere alteingesessene Sippe stellt die männliche Linie. Und natürlich gibt es immer wieder Techtelmechtel, die natürlich nie unter einem guten Stern stehen. Und natürlich ist es schließlich nicht Cousine Charlotte, die ihr Leben lang für das Zeitspringen gedrillt wurde sondern - ganz im Sissi-Stil - die unvorbereitete Gwendolyn, die das Zeitreise-Gen geerbt hat.

Es gibt einige vorhersehbare Verstrickungen und wer das Genre kennt, folgert einiges weit vor der Lösung im Buch. Aber Gier beweist: leicht muss nicht langweilig sein. Gwen ist frech, sympatisch, ein bisschen zynisch und durch und durch glaubwürdig. Die Stereotypen rundrum erleichtern den Einstieg in das Zeitreisen samt sich kreuzender - oder um Gottes Willen bloß nicht kreuzender? - Zeit- und Lebenslinien. Anstatt sich maßlos in Kontinuums-Philosophien zu verlieren, legt Gier den Fokus auf Gwendolyns Wahrnehmung. Dank dieser mainstreamgebildeten und schlagfertigen Heldin gehen wir alle gänzlich naiv an die Sache heran.

Zeitreisetheorien?
Ein nicht unerheblicher Teil der Spannung beruht für mich darauf, dass ich bisher noch nicht herausgefunden habe, welche Zeitreise-Theorie Kerstin Gier da verfolgt. Ist es eine feste Zeitlinie, in der alles, was geschehen wird, bereits geschehen ist (wie in 12 Monkeys) oder ist es eine dynamische Zeitlinie, in der das Zurückreisen in die Vergangenheit die eigene Gegenwart verändert (wie in Zurück in die Zukunft)? Die Logen, Großmeister, Legenden und Prophezeihungen sorgen für angemessen undurchsichtige Intrigen, Verschwörungen und Manipulationen. Längst nicht alle sind vorhersehbar.

Wir werden sehen, denn diese Trilogie ist eher ein Buch in drei Teilen. Rubinrot ist nur die Einführung, der Beginn einer spannenden Geschichte. Noch gab es keinen Showdown und ein abschließendes "Lesenswert-oder-nicht"-Urteil gibt es erst nach Band 3.

Trivia
Der Dreh- und Angelpunkt der Geheimbünde und des Zeitreise-Gens ist übrigens der Graf von Saint-Germain - eine Figur zweifelhafter Herkunft, die es wirklich gegeben hat und um die sich zahlreiche Verschwörungstehorien ranken. Schade, dass dieser Kern der Geschichte in der Reihenaufmachung und -vermarktung kaum Niederschlag findet. Damit wäre ich viel früher auf die Trilogie angesprungen.

Aufmachung
Ich bleibe dabei, dass mir das Cover für die Geschichte zu pastellig und zu verspielt ist. Ein bisschen mehr Steampunk und britischer Logenstaub hätten den Inhalt meiner Meinung nach besser transportiert. Allein deswegen reicht es mir, das Buch ausgeliehen zu haben. Im Regal möchte ich es in dieser Aufmachung nicht.
Leseproben gibt es übrigens auf der Homepage von "Liebe geht durch alle Zeiten" und dort ist auch ein Filmplakat zu sehen, das zumindest in der Farbgestaltung schon eher meinen Covervorstellungen entspricht.

Innen bildet das zweifarbige Schriftbild (hier noch Schwarz und Rot, im nächsten Band entsprechend Schwarz und Blau) einen hübschen Akzent. Für die Aufteilung lässt sich der Verlag Platz. Freie Seiten erlauben ein "Luftholen" und jedem einzelnen Kapitel ist ein Zitat aus der Welt Gwendolyns vorangestellt.


Leseerlebnis
Auf einer langen Bahnfahrt von Baden-Baden nach Neumünster jedenfalls versank ungebremst in der Geschichte. Bei Hamburg war ich durch - in den Stunden dazwischen habe mich wohl mit meinem Gekicher, Geblätter, Augenaufreißen und Atemanhalten bei dem Rentner neben mir ein klein bisschen zum Affen gemacht. Fein, dass es solche Bücher gibt.

Fazit
Für Rubinrot gilt in meinen Augen: die Mischung macht's. Zeitreise, Steampunk, Geheimbünde, Teenagerliebe, Fantasy und Geschichte sind hier ausgewogen gewichtet und ein stimmiges Ganzes. Dank der lebensechten Figuren, toller Dialoge und gefälliger Handlungsverläufe hatte ich rund fünf Stunden Spaß und ich freue mich auf Band 2.

Gelesen als Hardcover von Arena
ISBN 9783401063348

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