Mittwoch, 6. Juni 2012

Mittwochs-Rezi: Fliehe weit und schnell von Fred Vargas

5 von 5 Eselsohren

Ich lese Krimis nur im Sommer. Bei Hitze stellt sich bei mir ein gewisser Blutdurst ein. Dann störe ich mich nicht an Hollywoodshowdowns und Schubladencharakteren. Lange laue Nächte verlangen nach simplem Lesestoff, der einfach zu verschlingen ist und von mir aus auch immer im Dienste der Handlung steht. Sprache als Zweck. Nicht auf die Form, auf den Inhalt kommts dann an.



Niemals hätte ich in einem Krimi nach inspirierenden Gedanken und Poesie gesucht. Aber Fred Vargas bringt es fertig und befreit mich ratzfatz aus den eingefahrenen Schienen von guter vs. unterhaltender Literatur.

Eingestiegen in ihre Welt bin ich mit „Fliehe weit und schnell“. Dort geht die Pest auf mysteriösen Pfaden in Paris um.



Fred Vargas' Genre ist der Mystic-Krimi der Gegenwart. Á la "Sieben" oder "The sixth sense" vermischt sie Aberglauben mit Wahnvorstellungen und die Jäger des Phänomens brauchen eine hohe Expertise was Kulte, Rituale und Geschichte angeht. Zugleich sind ihre Mörder Meister ihres Fachs und gehen wohl mit Hannibal Lecter und seinesgleichen Kaffetrinken. Es verlangt die volle Konzentration, sich in die Logik solch ideologisch motivierter Schlächter einzuarbeiten - sowohl für die Ermittler als auch für die Leser.

Vargas Kommisar ist der schrullige Jean-Baptiste Adamsberg. Kein Brad Pit und keine Jodie Foster. Er ist ein vom Leben verknitterter, sehr nachdenklicher und vor allem feinsinniger Mensch. Seine Sichtweise fließt in das Schreiben von Vargas ein. Zwischen Mörderjagd, Kombinatorik und Herzklopfspannung findet sie Platz für Gedankenstreifzüge von großer Spannweite und für präzise ausgeleuchtete Panoramen. Das was ist, wird nicht zu platter Realität sondern zu einem intensivem Realitätserlebnis.

Die Figuren sind allesamt Unikate, leben und atmen ihre eigene Welt, sind schrullig - bissig - liebenswert - echt. Keine Whodunit-Stereotypen, die sich in die geforderte Genre-Spannungskurve legen müssen sondern profilierte Menschen mit großer Lust am surrealen Sein und mit Zeit für eine Entwicklung jenseits des Mordes. Im Erzähltempo steht das Gesamtbild ganz vorn. Manchmal geschieht seitenweise kein Mord (!) oder Ermittlungserfolg - man stelle sich das vor, wir sprechen doch hier von einem Krimi. ;)

In der wörtlichen Rede besitzt Vargas ein anderes Talent. Hier gibt ein Wort das andere, kann man kaum aufhören zu lesen, hängt an den Buchstaben wie an den Lippen der Sprechenden. Sie sind <adjektivkiste> witzig, authentisch, clever, sympathisch und beängstigend. </adjektivkiste> Zwischen Dialogwitz und Lust am Erzählen hält Vargas perfekt die Waage. Der generell Krimibegeisterte wird ebenso seinen Spaß haben, wie ein Leser auf der Suche nach sprachlichen Kleinodien. 

Ach so, falls jemand noch ein bisschen über den Inhalt wissen will, hier der Klappentext des Verlages zur Info:
Die Pest in Paris! Das Gerücht hält die Stadt in Atem, seit auf immer mehr Wohnungstüren über Nacht eine seitenverkehrte 4 erscheint und morgens ein Toter auf der Straße liegt - schwarz. Kommissar Adamsberg sitzt in einer kleinen Brasserie in Montparnasse. Im Kopf hat er eine rätselhafte lateinische Formel, die auf jenen Türen stand - und vor sich, am Metroausgang, einen bretonischen Seemann, der anonyme Annoncen verliest. Auch lateinische darunter. Aber wo ist der Zusammenhang zwischen den immer zahlreicheren Toten in der Stadt und den sympathischen kleinen Leuten, die dem Bretonen so gebannt zuhören? Plötzlich hat Adamsberg, der Mann mit der unkontrollierten Phantasie, eine Vision.

Mit Fred Vargas entdeckte ich für mich die erste Krimiautorin (jajaja. Fred ist eine Frau), von der ich aus echtem Interesse (und nicht nur aus Langeweile) weitere Bücher lesen wollte. Und mein anfänglicher Pessimismus, dass es sich hier um einen glücklichen Einzelfall handelt, in dem Thema, Stil und Stimmung zufällig perfekt zusammenpassen, war unbegründet. In "Bei Einbruch der Nacht" und "Die dritte Jungfrau" hat sie mich ebenfalls begeistert. nicht enttäuscht. "Fliehe weit und schnell" ist also das Resultat echten Könnens. Wundervoll!


Erschienen als Aufbau Taschenbuch
ISBN 978-3-746-62115-9

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen